Eine wahre Geschichte von Heinrich Gustav Teichmann
Es war Dezember 1916. Das Weihnachtsfest rĂŒckte immer nĂ€her und bald fiel bei uns an der Westfront der erste Schnee. Wir ĂŒberlegten schon lange, wie wir zu einem BĂ€umchen gelangen könnten. Aber es war wie verhext. Es bot sich keine Möglichkeit. Wir versprachen den Essenholern, die in die Etappe kamen, alles mögliche, sogar unsere Tabakration, aber es war einfach kein Nadelwald in der NĂ€he. Nur vor uns, vielleicht in einer Entfernung von fĂŒnf Kilometern Luftlinie, befand sich ein Mischwald mit einer seitlich angeschmiegten Fichtenschonung.
Keiner wusste Rat
FĂŒr alle FĂ€lle sammelten die Kameraden schon lange das Stanniolpapier aus den Zigarettenschachteln. Daraus schnitten wir mit Rasierklingen dĂŒnne Streifen zu Lametta. Wir sammelten die Reste der so genannten Hindenburglichter und kneteten sie handwarm um SchnurstĂŒcke zu kleinen Lichtâln. Aus Pappe schnitten andere Kameraden Sterne und malten sie mit Blei- oder Kopierstift an. Auch ein Stummel von einem Gelbstift wurde dazu verwendet. Die Attraktion war eine rote Glaskugel, welche den langen Transportweg heil ĂŒberstanden hatte und den Adressaten in einem PĂ€ckchen aus der Heimat erreichte. Nur der Baum dazu fehlte noch. Keiner wusste Rat.
Der 24. Dezember kam heran, und am Morgen hatten wir noch immer keinen Weihnachtsbaum. Auch unsere Offiziere schauten dĂŒster drein, obwohl der Erdboden leicht ĂŒberfroren war, keiner mehr im Schlamm stehen musste und weder Sturm noch Wind wehte. Ganz leise tanzten die Schneeflocken vom Himmel. Das Land war bereits mit einer zehn Zentimeter dicken weiĂen Decke ĂŒberzogen. ZufĂ€llig bekam unsere Kompanie am Vormittag mit der Verpflegung auch Skier und helle Tarnbekleidung angeliefert.
Da kam mir eine Idee. Ich meldete mich beim Hauptmann und schlug einen SpĂ€htrupp zum WĂ€ldchen vor. âMensch wissen Sie, wie gefĂ€hrlich das ist? Heute zum Heiligen Abend kann ich keine Gefallenen ertragen! Wie viel Mann wĂ€ren nötig?â Ich sagte: âHerr Hauptmann, einen fĂŒr den Transport und noch einen zur Sicherung. Insgesamt, mit mir, drei!â âMeinetwegen. Einverstanden. Suchen Sie sich noch zwei Kameraden aus, aber nur freiwillige, und ledig mĂŒssen sie sein! Verstanden?â âJawoll, Herr Hauptmannâ, erwiderte ich.
Im Niemandsland
Die zwei Kameraden standen mir schon zur Seite. Sie hatten sogar einige dĂŒnne KĂ€lberstricke, einen Fuchsschwanz, die Schneeschuhe und die Tarnbekleidung organisiert. Gleich nach dem Mittagessen zogen wir los, begleitet von allen Augen der Kompanie. Wir kamen auf den Brettern nur langsam voran, sie waren sehr ungewohnt Aber nach und nach wurden wir sicherer. Wenn eine Leuchtkugel hoch ging und die Umgebung aufhellte, blieben wir wie angewurzelt stehen. Ungehindert konnten wir das WaldstĂŒck im Niemandsland ansteuern. Als wir den Waldrand erreichten, verharrten wir erst einmal ganz still, und horchten auf fremde GerĂ€usche.
Aber es blieb zum GlĂŒck alles ruhig. Wir stellten unsere Karabiner an eine Birke und suchten in der nĂ€heren Umgebung eine passende Fichte. Zu unserer gröĂten Ăberraschung entdeckten wir sogar einige TannenbĂ€umchen. Ich suchte zwei geeignete heraus. Ein Kamerad zĂŒckte den Fuchsschwanz und sĂ€gte die erste Tanne ab. Gerade als ich sie aufhob und der Kamerad sich bĂŒckte, um die zweite abzusĂ€gen, stieĂ mich der dritte in die Seite, legte den rechten Zeigefinger auf seinen Mund und wies mit seinem Kopf nach links, wo sich gerade drei Franzosen daran machten, mit einer BĂŒgelsĂ€ge einer mittleren Fichte beizukommen. Noch hatten sie uns nicht bemerkt. Der dritte Kamerad lief gebĂŒckt zurĂŒck zur Birke und holte unsere Karabiner. Den zweiten Kameraden packte ich vorsichtig an der Schulter, hielt ihm den Mund zu und flĂŒsterte ihm leise ins Ohr, dass dort Franzosen am Werk seien. Er bekam es mit der Angst zu tun und traute sich nicht aufzustehen. Er legte sich sofort lang hin, um sich hinter einem Strauch zu tarnen.
Dann geschah das Wunder
Von hinten wollte mir der andere Kamerad den Karabiner zuschieben. Doch ich lehnte ab, beobachtete die französischen Soldaten, die jetzt aufgeregt zu uns herĂŒberblickten. Als unser dritter seinen Karabiner in Anschlag bringen wollte, drĂŒckte ich ihm den Lauf hinunter. Ein Franzose wollte im gleichen Augenblick eine Handgranate abziehen, wurde aber von einem graubĂ€rtigen Soldaten daran gehindert. Dann geschah das Wunder: Die Franzosen kamen ohne Waffen auf uns zu. Wir lieĂen unsere Gewehre einfach liegen und schritten unseren Feinden entgegen. Der vordere rief: âNix schieĂen, Kamerad!â Zur VerstĂ€ndigung winkten wir mit den HĂ€nden und hoben unsere WeihnachtsbĂ€umchen hoch. Auf der anderen Seite taten sie das gleiche und hoben die Fichte empor. Nun lieĂen wir jede Vorsicht fallen und liefen einfach auf sie zu.
Etwas zurĂŒckhaltend noch, begrĂŒĂten wir uns, die wir Weihnachten feiern wollten unter dem gleichen Himmel. Ich kramte eine Schachtel mit zerdrĂŒckten Zigaretten hervor und bot den französischen Soldaten davon an. Sie ihrerseits gaben uns ihre. Wir rauchten die ersten ZĂŒge schweigend. Nachher begutachteten wir gegenseitig die BĂ€umchen, lachten und klopften uns auf die Schultern. Der alte Franzose meinte: âKrieg nix gutt!â
Wir nickten eifrig. Dann zeigten wir uns gegenseitig die Fotos unserer Lieben. Alle nickten anerkennend beim Beschauen der Bilder. Aufgeregt zeigte ein jeder vor allem auf die Gesichter der Kinder und Frauen. Als die Zigaretten verglĂŒht waren, schenkten wir uns gegenseitig unsere angebrochenen Schachteln.
Es war eine eigenartige Weihnachtsbescherung, fand sie doch unter âstaatlich verordneten Feindenâ statt. Wir fragten uns, warum mĂŒssen wir eigentlich aufeinander schieĂen, die wir uns doch nie gesehen und uns nichts getan hatten? Konnten sich unsere Regierungen nicht auch endlich vertragen? Zum Abschied gaben wir uns die Hand. Der alte Franzose sagte noch: âNix Offizier sprechen!â Wir nickten zum Zeichen des EinverstĂ€ndnisses. Jeder wĂŒrde sich hĂŒten, dem Hauptmann etwas zu sagen. Wir trennten uns sehr nachdenklich und winkten uns noch einmal zu. Die Franzosen liefen nach Westen und wir fuhren, nachdem wir das zweite BĂ€umchen abgesĂ€gt hatten, nach Osten.
Wir teilten das Wenige
Im Laufgraben wurden wir schon von unseren Kameraden ungeduldig erwartet. Auch unser Hauptmann war froh, uns unverletzt wieder zu sehen. Dankend nahm er sein TannenbĂ€umchen, gab es seinem Putzer und verschwand in seinem Offiziersunterstand. Vor unseren Vorgesetzten hatten wir heute Ruhe. Unser TannenbĂ€umchen wurde von allen Seiten begutachtet. Die Freude darĂŒber war unverkennbar. Rasch wurde es behĂ€ngt. Nun stand es schmuck auf einer Munitionskiste, bereit fĂŒr die Bescherung. Einige mussten allerdings Posten stehen, drauĂen in der stillen Nacht. Nicht ein Schuss fiel. Man konnte die Illusion haben, im Frieden zu leben. Wir drei Weihnachtsbaumholer wurden an diesem Heiligen Abend von der Wache befreit. Ich durfte die Lichter anstecken. Die Kameraden, welche das GlĂŒck hatten, ein PĂ€ckchen erhalten zu haben, teilten das Wenige mit denen, die leer ausgegangen waren. Zur Feier des Tages gab es fĂŒr jeden einen Becher heiĂen schwarzen Tee. Wir drei verteilten die französischen Zigaretten. UnglĂ€ubige Augen sahen uns an, je lĂ€nger wir von der Begegnung mit unseren freundlichen Feinden berichteten. Einem Ă€lteren Familienvater, der zu Hause fĂŒnf Kinder hatte, kullerten ein paar TrĂ€nen die Wangen herunter. Er meinte: âWas soll der verfluchte Krieg? Denkt ihr, er ist fĂŒr uns etwas nĂŒtze? Nur die GroĂen verdienen an ihm, an jeder Granate, und unsereins muss hier im Dreck liegen.â
Da gedachten wir derer, die gefallen waren. AllmÀhlich wanderten unsere Gedanken ganz von selbst nach Hause und weilten bei unseren Angehörigen. Dann sangen wir leise, zu den KlÀngen einer Mundharmonika, unsere schönen Weihnachtslieder.
Dies ist die Geschichte von Heinrich Gustav Teichmann. Sein Sohn, Horst E. Teichmann, der sie eingereicht hat, ist inzwischen ebenfalls verstorben. Seiner Witwe, Frau Dorothea Teichmann, gilt unser aufrichtiges Beileid.