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Die große Stadt
oder
Elly und das Mädchen
Frenja
1
In klaren Winternächten, wenn es draußen bitterkalt ist, kann man weit in der Ferne am Horizont ein kleines, schwaches Leuchten erkennen. Es ist aber kein Feuer, das den Himmel dort erhellt, oder ein Polarlicht, sondern das Leuchten einer großen, wundervollen Stadt. Betrachtet man das Leuchten längere Zeit, scheint es einmal größer, und bald wieder kleiner zu werden. So klein, dass es beinahe nicht mehr zu sehen ist, und eines Tages wird es vielleicht ganz verschwunden sein. Man erzählt sich Geschichten von der großen Stadt und den Menschen, die dort leben. Niemand hat sie jemals zu Gesicht bekommen, mit ihnen gesprochen, oder ihnen Fragen gestellt, oder sie gar berührt. Man kann nur von ihnen träumen, und manchmal an sie denken. Aber wenn man die Augen zumacht und in die Nacht lauscht, dann kann es sein, dass man ihre Stimmen flüstern hört.
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Vor der großen Stadt, in einer Lichterkette nach Nirgendwo, geschah es wenige Tage vor Weihnachten, dass ein Verkehrsunfall die Hineilenden solchermaßen erschütterte, dass sie später an diesem Abend niedergeschlagen nach Hause gingen, um ein wenig Wärme und Zuspruch bei ihren Lieben zu finden.
Eine junge Frau aus dem Norden der Stadt verstarb noch an der Unglücksstelle. Die eifrigen Ermittler stellten an diesem Abend und in den darauffolgenden Tagen betrübt fest, dass es nicht möglich war, Angehörige der Verunglückten ausfindig zu machen.
Das kleine Mädchen im Wagen kam wie durch ein Wunder mit ein paar Abschürfungen davon, war aber äußerst verstört. Die Rettungsleute fuhren das Kind mit dem Namen Frenja in das Krankenhaus inmitten der Stadt, und nach ersten Untersuchungen wurde es auf die Kinderstation in den zweiundvierzigsten Stock gebracht.
3
Von den Bergen her wehte ein letzter warmer Wind durch die Straßen der Stadt und die Menschen brauchten nicht zu frieren. Tief atmeten sie die milde Luft ein, fühlten sich behaglich und der Radiomann berichtete stündlich von den selten lauen Wetterkapriolen über der Stadt. Auf den prachtvoll geschmückten Bürgersteigen herrschte kopfloses Gedränge und die Lautsprecher verbreiteten den Glockenklang weihnachtlicher Musik. In den Schaufenstern gaukelte bizarrer Ramsch seine Unverzichtbarkeit vor. Die Stadtbewohner spähten und staunten und so mancher jubelte vergnüglich. Sie kauften und prahlten mit dem erstandenen Tand. Große Häuser und kleine, die Straßen, Gassen und Hinterhöfe, alles war für das Fest der Liebe geschmückt. Die Menschen freuten sich in der Weihnachtszeit, und auch wenn sie das übrige Jahr nicht immer so nett zueinander waren, an diesen Tagen versuchten sie es zumindest, und manches Mal, da glückte es sogar.
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Im Rathaus beschloss die Obrigkeit, das verwaiste Mädchen vorübergehend im Krankenhaus zu behalten. Sie werden nach einer Lösung suchen und später Entscheidungen treffen, wurde mitgeteilt, während draußen der laue Wind aufgehört hatte, freundlich um die Nasen der Menschen zu blasen, und hoch oben zwischen den Häuserblocks eine Stille einkehrte, als wollte der Himmel seine Kräfte sammeln, um bald Schweres heranzutragen.
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Das schmächtige Mädchen mit den schulterlangen Haaren machte auf das Krankenhauspersonal einen verängstigten, geradezu bemitleidenswerten Eindruck. Kein Laut kam von seinen Lippen. Ein Mann mit hervorragenden Menschenkenntnissen, einem fragenden und zugleich verständnisvollen Blick kam mit der Absicht vorbei, die psychische Verfassung des Mädchens festzustellen. Lange und geduldig sprach er auf das Mädchen ein, das sich bald ein wenig öffnete. Der nette Mann kannte viele Tricks, um das Mädchen zum Sprechen zu bringen und bat es, etwas für ihn zu malen. Frenja schaute ein Weilchen teilnahmslos auf das Blatt Papier, malte dann aber ein unförmiges Auto und ein paar Luftballons mit Sonnenschein. Nachdenklich betrachtete der Menschenkenner das mühselig zustande gebrachte und fragte mit lockender Stimme, was für ein Auto das denn sei. Das Mädchen stammelte mit leiser Stimme, dass es das schönste Auto der Welt sei, und es ihrer Mama gehöre, dabei schloss es die Augen und senkte den Kopf. Im selben Moment schüttelte es das Kind und der Malstift fiel zu Boden. Auf der Stirn des Mannes bildeten sich einige Sorgenfalten, aber trotz aller Bemühungen antwortete das Mädchen nicht mehr auf seine freundlichen Worte und so ging er bald unverrichteter Dinge davon.
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Als Elly das Mädchen zum ersten Mal sah, wurde ihr schwer ums Herz. Frenja kauerte wie ein verängstigtes Tier in einer Ecke des Zimmers. Die Arme um die angezogenen Beine geschlungen, als wollte sie noch kleiner sein, als sie ohnehin schon war. Ein paar dünne Haarsträhnen fielen Frenja ins blasse Gesicht und eine davon hatte sie in ihrem kleinen Mund. Sie summte verträumt und stockend ein Schlaflied vor sich hin, wie es Mütter oft an den Betten ihrer Kinder taten.
Obwohl die junge Nachtschwester auf der Kinderstation häufig mit traurigen Schicksalen konfrontiert wurde, ging ihr jedes einzelne davon immer wieder sehr nahe. Sie kniete sich vor Frenja, dass sie beinahe auf Augenhöhe mit dem Kind war. Das große Elend und die scheinbare Leere in den Augen des Kindes ließen Elly alle Bedenken vergessen, und spontan die Arme ausbreiten, um Frenja darin aufzunehmen. Aber das Mädchen wich vor der fremden Frau zurück, als wäre sie ein Geist.
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Bald schickte ein kalter Ostwind dunkle Wolken über die große Stadt und es begann, kräftig zu schneien. Dicke Schneeflocken tanzten schräg mit dem Wind daher und knirschten trocken unter den rollenden Reifen der Autos im Labyrinth des Straßennetzes. Ampeln schaukelten wie Signalbojen in einer vom Sturm gebeutelten Hafeneinfahrt und die Menschen hielten sich dicht an den Betonfundamenten der Wolkenkratzer. Die Kragen hochgezogen und leicht gebückt suchten sie Schutz unter den Vordächern der Straßenbahnstationen und in den überdachten Fußgängerpassagen.
Die dick vermummten Männer der städtischen Brigaden fluchten lauthals über den längst fälligen Wintereinbruch, freuten sich aber versteckt wie kleine Kinder, endlich die Gelegenheit zu haben, ihr Können der Stadt und sich selbst zu beweisen. In ihren kolossalen Schneeräumfahrzeugen donnerten sie die Straßen hinauf und hinunter, und mit sich drehenden Blinklichtern führten sie den staunenden Menschen vor, was für verwegene Kerle sie im Grunde genommen waren.
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Nach der ersten Begegnung wusste Elly, dass sie sich nur äußerst behutsam dem Mädchen nähern durfte. Als sie am Tag darauf das Kind am Spieltisch mit den Puppen sah, setzte sie sich zu ihm, als hätte sie gerade nichts zu tun. Sie nahm zwei Handpuppen und schlüpfte mit den Fingern unter deren Röcke. Sie erzählte dem Kind, dass sie diese vor einigen Monaten von ihrem Zuhause mitgebracht habe. Weil sie dachte, in ihrer Wohnung seien die beiden Puppen so alleine, und auf der Kinderstation gefiele es ihnen sicherlich viel besser, weil da immer Kinder wären, die gerne spielten. Und Elly sprach von den Puppen, als wären sie Menschen. Sie erzählte dem Kind von einer Puppenwelt, in der es Drachen und Zauberer, Hexen, Königssöhne und Prinzessinnen und ganz viele Zwerge gäbe. Dass es eine Märchenwelt sei, von der die Puppen, die bei den Menschen lebten, manchmal zu berichten wüssten, man müsse nur fest daran glauben, dann könne man die Puppen sprechen hören.
Das Kasperle verbeugte sich und sagte mit Ellys tiefster Stimme: „Hallo Frenja“, und die Prinzessin piepste; „Schön, dass du bei uns bist.“ Elly wusste nicht, ob das Kind ihr zugehört hatte, aber etwas später dann, als sie das Mädchen zu Bett brachte, sah sie, wie die Kleine verstohlen zu den Puppen blickte, aber Elly tat so, als würde sie es nicht bemerken.
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Am nächsten Abend kam Elly etwas früher zur Arbeit und sah, wie die strenge Oberschwester vor dem Mädchen auf und ab ging. Das Mädchen hatte keinen Appetit. Es aß nur wenige Bissen und kaute auf diesen langsam und mit leicht geöffnetem Mund. In einem unterdrückten, befehlshaberischen Ton sprach die Stationsleiterin auf das Kind ein. Sie wollte, dass Frenja alle grünen Bohnen auf ihrem Teller aß. Das Mädchen blickte flehendlich zu Elly hin. Elly kannte diese Bohnen nur zur Genüge und wusste, dass kein Kind sie gerne aß. Oje, die Bohnen, dachte sie, leicht bitter und faserig waren sie ihr in Erinnerung.
In ernstem Tonfall sagte Elly zu der Oberschwester, dass der Junge im Zimmer nebenan sehr fiebrige Augen habe und dass es vielleicht besser sei, wenn sie sich ihn einmal näher ansähe. Die schon etwas ältere Stationsleiterin machte sich sofort pflichtbewusst auf den Weg, sagte aber noch im Hinausgehen, dass sie gleich wieder zurück sei, um nachzusehen, ob Frenja den Teller leer gegessen hätte.
Als die Stationsleiterin gegangen war, nahm Elly schnell eine Gabel und beförderte die grässlichen Bohnen in eine Serviette, legte eine zweite darüber und formte daraus einen Knäuel. In Windeseile verschwand der provisorische Bohnensack in Ellys Schürzentasche.
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Und so geschah es, dass Elly nach nur wenigen Tagen mit ihrem großen Einfühlungsvermögen das Vertrauen des in sich zurückgekehrten Mädchens erlangt hatte.
Elly fühlte sich zu Frenja auf eine wunderbare Art und Weise hingezogen. Obwohl das Kind nur sehr wenig sprach, und Ellys vorsichtig gestellte Fragen nach seinem Befinden, meist nur mit einem kleinlauten „Ja“, oder „Nein“ beantwortet wurden, wuchs in diesen Tagen eine wundervolle Freundschaft heran, von der die Krankenhausbediensteten der großen Stadt noch viele Jahre später zu erzählen wussten.
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Elly hatte es nicht allzu leicht im Leben. Die Menschen der großen Stadt behandelten diejenigen, die am Stadtrand lebten, meist von oben herab. Fast täglich bekam Elly die kleinen Stiche zu spüren. Schon damals als sie zur Schule ging, hatte sie es schwer, Anschluss zu finden. Naja, sie war eben eine vom Rande, wie ihre Mitschüler zu sagen pflegten. Aber sie boxte sich durch, auch wenn es manchmal bitter war. Vielleicht deswegen, dachte sie, war aus ihr eine kleine, aber doch vernünftige Rebellin geworden. Sie stand mit beiden Beinen fest im Leben der großen Stadt und ein Niemand konnte ihr etwas vormachen. Elly war eine äußerst kluge und wundervolle Frau, sagte so mancher, der sie näher kannte.
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Während Elly tagsüber dem Krankenhaus fern blieb und sich in ihrer Dienstwohnung den wohlverdienten Schlaf gönnte, wirkte das Mädchen im Krankenhaus regelrecht apathisch auf das Personal. Versuche, das Mädchen zu beschäftigen oder zum Spielen zu verleiten, blieben ebenso erfolglos, wie die eindringlichen Bemühungen des Psychologen ein Gespräch mit ihm zu führen.
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Die Betten im Westflügel der zweiundvierzigsten Etage waren nur spärlich belegt. Frenja war alleine in einem Zimmer untergebracht. Auch wenn Elly energisch darauf gedrängt hatte, das Mädchen mit anderen Kindern zusammenzulegen, weigerte sich die Stationsleiterin, das Mädchen aus dem Einzelzimmer zu nehmen.
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Das Mädchen brauche Ruhe, sprach die Oberschwester, die immer alles besser wusste, auch wenn sie gar nichts wusste und nur etwas vermutete, aber sich nicht widersprechen ließ, weil sie eben die Ranghöchste der Schwestern im Krankenhaus war. Gefühle zählten nicht und absurde Vorschläge einer jungen Frau, deren Verstand für höhere Anforderungen nicht geeignet schien, schon gar nicht. Elly hatte ihr in der Vergangenheit nicht nur einmal widersprochen und hatte bereits den dritten Vermerk in ihrem persönlichen Datenblatt im Netzwerk der Obrigkeit zu verzeichnen.
Eigentlich wollte Elly der Oberschwester seit längerem so richtig ihre Meinung sagen, aber dieses eine Mal gab sie noch nach. Das Kind brauchte sie, und nur das war es, was zählte. Sie schluckte ihre vierte Verwarnung hinunter, und damit wahrscheinlich auch ihre Kündigung, und sagte, dass es ihr Leid tue, und sie einsehe, was für eine erfahrene und kluge Frau die Oberschwester sei. Wohlwollend wurden ihre Worte zur Kenntnis genommen und die Eitelkeit vollführte einen Luftsprung.
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Abends saß das Mädchen meist regungslos im Flur am Tisch, auf dem das Stoffkasperle und die Prinzessin mit ihren lächelnden Holzköpfen lagen, und sah erwartungsvoll zu den Lichtern über der Fahrstuhltür, wenn sich diese auf und ab bewegten. Die Augen des Mädchens fingen an zu glänzen, als es Elly aus dem Fahrstuhl treten sah und seine Füße, die bei Weitem nicht bis an den Fußboden reichten, begannen leicht hin und her zu baumeln. Dann glitt das Mädchen vom Stuhl herunter und ging ein, zwei Schritte auf Elly zu. Die Sehnsucht in Frenjas Blick schien Elly zu sich heran zu ziehen, sie zu umarmen und willkommen zu heißen. Elly ging unwillkürlich auf das Kind zu und begrüßte es liebevoll. Sie war glücklich in diesen Momenten und hatte ein bisschen das Gefühl, als wäre sie nach Hause gekommen.
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Nachts, wenn das Mädchen unruhig lag, setzte sich Elly an sein Bett und streichelte ihm über das Haar. Sie hielt die kleinen Hände in den Ihrigen und sang leise das Lied von einem Jungen, der alleine zu den Sternen flog, und einem Mann, der im Mond lebte und zu allen Kindern herunter schaute, die in ihren Betten lagen, müde waren, aber nicht schliefen. Das Mädchen entspannte sich merklich, wenn Elly bei ihm war. Es lauschte der hellen, melodischen Stimme, bis es befreit von den drückenden Gedanken die Augen schloss und in einen erlösenden Schlaf fiel.
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Einmal, mitten in der Nacht, als Elly das Zimmer des Mädchens betrat, sah sie, wie dieses wach und aufrecht in seinem Bett saß und zum Fenster schaute. Und dann, ohne dass Elly etwas sagte, fing das Mädchen nach einiger Zeit an zu sprechen. Es sprach von seiner Mama und von dem Haus, in dem sie gewohnt hatten und dass sie es nicht gut hatten, dort wo sie daheim gewesen wären. Und dass die Mama mit ihr ganz weit wegfahren wollte, in ein Land, wo immer die Sonne schiene, alles wunderschön und die Menschen lieb wären.
Und dann verstummte das Mädchen. Schwer lastende Stille zog in das Zimmer ein. Als das Kind weiter sprach, kam zaghaft, beinahe flehend, die Frage, vor der sich Elly schon lange fürchtete: „Elly, wo ist meine Mama jetzt?“
Elly strich dem Mädchen über das Haar und blickte es zärtlich an. Sie hob das Kind hoch, welches die Arme um sie schlang, und ging mit ihm an das Fenster. Mit ausgestrecktem Arm zeigte sie nach oben in eine hell schimmernde Lücke, die sich in der Wolkendecke auftat. Große und kleine Sterne funkelten durch das Wolkentor am Himmel. Elly erzählte dem Mädchen vom lieben Gott, von den Sternen und von den Engeln, und dass seine Mama zu einem Engel im Himmel geworden sei, der fortan immer herunterschaue und es beschützen werde. Frenja murmelte erstickt, dass sie auch in den Himmel wolle, zu ihrer Mama, die nun in den Sternen mit den Engeln wohne. Dass sie von den Schutzengeln wisse, weil die Mama oft über sie gesprochen habe. Und die Mama ihr zu Weihnachten so einen Engel an einem Halskettchen schenken wollte, aber das nun nicht mehr gehe, weil sie ja so weit weg sei. Leise fing das Mädchen an zu schluchzen und dann weinte es die so lange zurückgehaltenen Tränen, dabei vergrub es das Gesicht in Ellys Schulter.
Und sie blieben lange Zeit am Fenster stehen und sahen in den Himmel zu den Sternen. Elly wiegte das Kind leicht hin und her und dachte an den lieben Gott und an die Welt, an das Glück, an das Leid und weinte mit Frenja zusammen die Tränen einer sehnsüchtigen Hoffnung. Einer stillen Hoffnung, die sich in den Herzen aller Menschen der großen Stadt verbarg.
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Die Gebäude glitzerten silbern in den ersten Sonnenstrahlen am Weihnachtstag. Kinder mit Rotznasen in roten Apfelgesichtern spielten in den Hinterhöfen und auf den Straßen der großen Stadt, lachten und jauchzten, bewarfen sich mit Schnee und freuten sich auf den Abend der Geschenke.
Unter den Brücken am Fluss, der sich durch die große Stadt wälzte, traten die Armseligen dichter zusammen. Das Feuer in den Fässern spiegelte sich in ihren Augen und täuschte darüber hinweg, dass die einstige Kraft längst erloschen war. Lachend und trinkend versuchten sie die Trostlosigkeit ihres Lebens zu vergessen. Sie wollten an diesem Tag nicht daran denken, was einmal war und morgen vielleicht sein wird. Sie steckten sich hie und da eine Kleinigkeit wie ein Stück Brot oder etwas Wurst zu, kauten daran und schauten verlegen weg, weil sie sich vor ihren Brüdern und Schwestern schämten, die oben auf den Brücken gingen, und die es ihnen gleich taten und ebenfalls wegsahen, weil es ihnen auch ein bisschen peinlich war.
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Frenja bekam an diesem Morgen fürsorglichen Besuch. Eine Frau mit klick - klack Absätzen erkundigte sich bei der Oberschwester nach dem Befinden des Mädchens. Diese winkte nur ab und meinte mit spitzer Stimme, der Kleinen gehe es gut, ein schwieriges Kind sei es eben, und dass es an der Zeit sei, dieses woanders unterzubringen, und nicht in ihrem Krankenhaus, denn wo käme man denn da hin, wenn gesunde Menschen in den Betten des Krankenhauses lägen.
Die Frau von der städtischen Wohlfahrt nickte verständnisvoll und ging an den Tisch mit den Puppen, an dem Frenja saß. Die Frau setzte sich zu ihr und sagte lieb, aber doch bestimmt, dass sie ein schönes Haus kenne, in dem viele Kinder leben und es sogar eine richtige Schule gebe und einen großen Spielplatz mit einem kleinen Wald und einem vorzüglichen Essen. Und dass sie sie mitnehmen werde, in zwei Tagen, nach den Feiertagen und sich die Kinder dort schon auf sie freuen würden. Die Dame tuschelte noch ein paar Worte mit der Oberschwester, entschuldigte sich noch bei Frenja, weil es ihr eilte, und es eigentlich ihr freier Tag wäre und verschwand winkend hinter der Fahrstuhltür.
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Und langsam kam der Abend und es wollte dunkel werden, aber die Finsternis hielten die Menschen der großen Stadt auf gebührenden Abstand. Große und kleine Kinder trugen unter Leuchtreklamen Laternen aus Karton. Feuerwerksraketen wurden von nachgebenden Vätern gezündet, auch wenn so manch Eifriger dabei übersah, dass sein Knirps nicht zugegen war. Wie die stolzen Generäle pfefferten sie die Salven, eine nach der anderen in den dröhnenden Nachthimmel. Man übte sich heimlich auf Silvester ein und in den Stuben erklang die stille, oh Heilige Nacht, während die Polizei mit Blaulicht durch die Stadt jagte, um die Frevler zu erwischen.
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Elly holte in ihrer Wohnung eine Schmuckschatulle hervor. Sie entnahm ihr ein feingliedriges Armband, an dem ein kleiner, goldener Schutzengel hing. Das schöne Schmuckstück hatte sie als Kind getragen, bis es ihr eines Tages um das Handgelenk zu eng wurde. Vor langer Zeit hatte sie es von ihrer Mutter bekommen, mit den Worten, dass der Engel sie immer beschützen werde und sie ihn später einmal an ihre Tochter weitergeben solle. Elly konnte keine Kinder bekommen. Das wusste sie seit mehreren Jahren. Versonnen betrachtete sie das Kleinod in ihrer Hand und dachte dabei liebevoll an Frenja. Ellys Finger umschlossen das Kettchen mit dem Engel und der Hoffnung und der Liebe, die sie unendlich groß in sich verspürte, und obwohl sie keinen Dienst hatte, machte sie sich auf den Weg ins Krankenhaus.
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Ein riesiges Luftschiff, das aussah wie eine übergroße, ovale Weihnachtsbaumkugel in den allerschönsten Farben schwebte nur wenige Meter über den Köpfen der Menschen. Gefährlich nahe an den Wolkenkratzern bewegte es sich durch die große Stadt. Im Stadtzentrum angekommen, verlangsamte es seine Fahrt, bis es zum Stillstand kam. Die Leute auf dem großen Platz vor der Kathedrale jubelten und winkten dem in der Luft hängenden Ungetüm überschwänglich zu. Aus der Gondel, die sich wie die Zitze an der Mutterbrust unterhalb des Schiffes abzeichnete, wurden Strickleitern herunter gelassen. Grölende Weihnachtsmänner mit dicken Säcken auf ihren Rücken geschnallt, kletterten behände an ihnen herunter. Sie mischten sich unter das jubelnde Volk, verteilten kleine Geschenke an die aufgeregten Kinder, und die Obrigkeit winkte wohlwollend von einem in Samt gewickelten Podest herunter.
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Als Elly die Station betrat, sah sie durch die offenen Türen Mütter und Väter, Großmütter und Großväter und auch die Geschwister, mit Geschenken bepackt, rund um die Betten der Kinder und Enkelkinder versammelt, die bereits mit leuchtenden Augen die ersten Päckchen öffneten. Manche, der kleinen Leute trugen Gipsverbände, andere hatten eine Operation hinter, oder noch vor sich, aber an diesem Abend lachten sie alle glücklich im Beisein ihrer Eltern und Geschwistern. An den Fensterscheiben hingen Papierengel und ein kleiner Weihnachtsbaum schmückte jedes Zimmer. Die Familien hielten sich liebevoll an den Händen und eine fröhliche Stimmung war an diesem Abend im Krankenhaus eingekehrt.
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Frenja befand sich nicht in ihrem Zimmer und Elly fragte die diensthabende Schwester nach dem Kind, das auch nicht am Tisch mit den Puppen, wie sonst häufig, zu finden war. Etwas verwundert erwiderte diese, dass sie Frenja vor einer Stunde ins Bett gebracht und ihr noch eine Gutenachtgeschichte vorgelesen hatte, bevor sie das Licht ausmachte und die Kleine alleine ließ. Elly lief in den Flur zu dem Spieltisch zurück und stellte bestürzt fest, dass die beiden Puppen ebenfalls verschwunden waren.
Und so machten sich an diesem Abend in der großen Stadt zwei besorgte Frauen auf die Suche nach einem verloren gegangenen Mädchen. Alle Zimmer wurden durchkämmt. In den Abstellräumen und in den zwei Untersuchungszimmern, in der kleinen Küche, überall schauten sie nach. Sogar manch großen Kasten öffneten sie in der Hoffnung, das Mädchen würde sich darin verbergen. Viele der kleinen Patienten, sofern sie laufen konnten, beteiligten sich genau so selbstverständlich wie ihre lieben Verwandten an der Suchaktion. Nachdem sie alles auf den Kopf gestellt hatten, was ihnen einfiel, blickten sie Elly ratlos an. Keine Maus hätte übersehen werden können und doch war das Mädchen spurlos verschwunden. Elly überlegte fieberhaft und es kam ihr ein beinahe abwegiger Gedanke: Sie hatte häufig mit Frenja über den Himmel gesprochen, und als das Mädchen einmal fragte, wie weit der Himmel entfernt sei, da sagte Elly, dass der Himmel direkt über ihnen auf dem Dach begänne. Als sie den Gedanken zu Ende dachte, erschrak sie und lief alleine zum Notausgang, in das schmale Treppenhaus.
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Im Treppenhaus brannte Licht, und Elly sah bestürzt die Wendeltreppe, die nach oben auf das Dach führte. Die Luke am Ende der Stufen war ein wenig geöffnet und Elly fühlte eine nie da gewesene Angst in sich aufsteigen. In Windeseile erklomm sie die wenigen Tritte und riss die Luke zur Gänze auf. Ein kalter Wind wehte ihr entgegen und ihre Augen begannen zu tränen.
Beinahe kniehoch lag der Schnee auf dem Dach. Unregelmäßig verliefen Spuren im Schnee. Eingesunkene Abdrücke von kleinen Füßen führten zu einer überdachten Kuppel, von der nur die Vorderseite zu sehen war.
„Frenja!“
Elly schrie lauthals den Namen des Mädchens und rannte so schnell sie nur konnte, aber mühselig und stolpernd durch den Schnee, dass sie beinahe zu Fall kam.
Bei der Kuppel angekommen, meinte Elly für einen winzigen Augenblick, kreiselnde Lichtpunkte am Nachthimmel zu sehen, die schwächer wurden und gleich darauf erloschen.
Elly sah eine Nische vor sich. Im Nachthemd kauerte Frenja im Schnee, mit dem Rücken an die Kuppel gelehnt und sah Elly mit großen Augen an. Das Kasperle und die Prinzessin saßen links und rechts daneben, die Holzköpfe an das Kind gedrückt, welches ihnen die kleinen Hände hielt.
Unendlich erleichtert hob Elly das Mädchen hoch und drückte es mit einer Hand fest an ihre Brust. Mit der anderen umschloss sie die eiskalten Füße des Kindes, welches das Kasperle und die Prinzessin fest an sich drückte.
„Liebes, du darfst mich nie mehr so erschrecken, beinahe wäre ich vor Angst gestorben“, sprach Elly aufgeregt und leicht vorwurfsvoll. „Du könntest hier draußen erfrieren.“ Elly spürte, wie sie beide zitterten.
Das Mädchen hob das Gesicht und blickte Elly treuherzig in die Augen.
„Du brauchst keine Angst zu haben, Elly, mir ist gar nicht kalt.“ Frenja berührte Ellys Backe und wischte ihr eine Träne weg.
„Als ich da gesessen habe, Elly, da ist meine Mama gekommen. Ich hab gesagt, dass sie mich mitnehmen soll in den Himmel. Aber Mama hat gesagt, dass sie mich später einmal zu sich holen wird, aber jetzt noch nicht, und es sei noch zu früh. Und ich hab geweint und gesagt, dass sie mich nicht alleine lassen soll. Mama hat mich dann ganz lieb gehalten und gemeint, dass sie immer ganz in meiner Nähe sei, und du dich immer um mich kümmern würdest, Elly. Du lässt mich doch nicht alleine, stimmt das?“ Frenja blickte sie ängstlich an.
Elly schluckte schwer und die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie sah um den Hals des Mädchens ein goldenes Kettchen, an dem ein kleiner Schutzengel hing.
„Frenja, ich lass dich nie mehr alleine, nie, nie mehr, ich versprech es dir.“
Und so standen Frenja und Elly eng umschlungen auf dem Dach des Krankenhauses und es fielen Schneeflocken auf die beiden nieder, als weinte der Himmel weiße Tränen.
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Der Winter war bald vorbei und der Frühling zeigte sein wärmendes Sonnenlicht. Zwischen den Häusern der großen Stadt bewegten sich die Menschen wie eh und je dahin. Und manchmal sah man zwischen ihnen ein kleines Mädchen an der Hand einer Krankenschwester gehen. Das Mädchen trug zwei Schutzengel bei sich, und wenn es nach oben in die Augen der jungen Frau sah, dann lächelten sie beide.
Und wer von euch gerne wissen möchte, wie es Frenja und Elly heute noch geht, der braucht nur in einer bitterkalten Winternacht nach draußen zu gehen, und auf das Flüstern in der Nacht zu hören.
--------------------------------------------------------------------------- Beitrag vom 07.10.2011, 05:15 --- messenger654321 --- : 27
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