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"Der erste Tannenbaum, den ich gesehn"

 
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Autor Nachricht
Poet
superwichtiger-Rentier-Lenk-Wichtel


Datum der Anmeldung: 07.12.2010
Beiträge: 248

Geschrieben am: 17.12.2010, 10:50    Titel: "Der erste Tannenbaum, den ich gesehn" Top 19059: "Der erste Tannenbaum, den ich gesehn" Antworten & Zitieren

"Der erste Tannenbaum, den ich gesehn"
(Gottfried Keller)

Der erste Tannenbaum, den ich gesehn,
Das war ein Weihnachtsbaum im Kerzenschimmer;
Noch seh' ich lieblich glimmend vor mir stehn
Das grüne Wunder im erhellten Zimmer.

Da war ich täglich mit dem Frühsten wach,
Den Zweigen gläubig ihren Schmuck zu rauben;
Doch als die letzte süße Frucht ich brach,
Ging es zugleich an meinen Wunderglauben.

Dann aber, als im Lenz zum ersten Mal
In einen Nadelwald ich mich verirrte,
Mich durch die hohen stillen Säulen stahl,
Bis sich der Hain zu jungem Schlag entwirrte:

O Freudigkeit! wie ich da ungesehn
In einem Forst von Weihnachtsbäumchen spielte,
Dicht um mein Haar ihr zartes Wipfelwehn,
Das überragend mir den Scheitel kühlte.

Ein kleiner Riese in dem kleinen Tann,
Sah ich vergnügt, wo Weihnachtsbäume sprießen;
Ich packte keck ein winzig Tännlein an
Und bog es mächtig ringend mir zu Füßen.

Und über mir war nichts als blauer Raum;
Doch als ich mich dicht an die Erde schmiegte,
Sah unten ich durch dünner Stämmchen Saum,
Wie Land und See im Silberduft sich wiegte.

Wie ich so lag, da rauscht' und stob's herbei,
Daß mir der Lufthauch durch die Locken sauste,
Und aus der Höh' schoß senkrecht her der Weih,
Daß seiner Schwingen Schlag im Ohr mir brauste.

Als schwebend er nah ob dem Haupt mir stand,
Funkelt' sein Aug' gleich dunkeln Edelsteinen;
Zu äußerst an der Flügel dünnem Rand
Sah ich die Sonne durch die Kiele scheinen.

Auf meinem Angesicht sein Schatten ruht'
Und ließ die glühen Wangen mir erkalten -
Ob welchem Inderfürst von heißem Blut
Ward solch' ein Sonnenschirm emporgehalten?

Wie ich so lag, erschaut' ich plötzlich nah,
Wie eine Eidechs mit neugier'gem Blicke
Vom nächsten Zweig in's Aug' mir niedersah,
Wie in die Flut ein Kind auf schwanker Brücke.

Nie hab' ich mehr solch guten Blick gesehn
Und so lebendig ruhig, fein und glühend;
Hellgrün war sie, ich sah den Odem gehn
In zarter Brust, blaß wie ein Röschen blühend.

Ob sie mein blaues Auge niederzog?
Sie ließ vom Zweig sich auf die Stirn mir nieder,
Schritt abwärts, bis sie um den Hals mir bog,
Ein fein Geschmeide, ruhend ihre Glieder.

Ich hielt mich reglos und mit lindem Druck
Fühlt' ich den leisen Puls am Halse schlagen;
Das war der einzige und schönste Schmuck,
Den ich in meinem Leben je getragen!

Damals war ich ein kleiner Pantheist
Und ruhte selig in den jungen Bäumen;
Doch nimmer ahnte mir zu jener Frist,
Daß in den Stämmchen solche Bretter keimen!
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